Der Wanderstecken

Der Weg führt durch den Auwald auf eine Lichtung. Jemand mäht das Gras mit einem Traktor. Lange Halme liegen auf dem Boden, der Weg ist kaum zu erkennen. Ich gehe am Rand der Wiese entlang, achte darauf, ob der Weg in den Wald abzweigt, entdecke keine Spur, gehe bis zum anderen Ende der Wiese. Der Weg führt wieder in den Wald hinein. Was liegt da am Boden? Ein Wanderstecken. Ich sehe mich um, suche nach einer Person, der er gehören könnte. Niemand ist da. Ich hebe den Stecken auf, versuche ihn an einem Baum aufzuhängen, er hält nicht. Am Griff ist eine Lasche montiert, die sich mit Klettverschluss schließen lässt. Sie ist geöffnet, schwarze Dreiecke mit schmalen Bändern stehen zu beiden Seiten vom Griff ab. Ich montiere damit den Stecken an einem Ast, gehe ein paar Schritte, schaue zurück, ob der Stecken hält. Ich gehe weiter, in den Auwald hinein. Dann vernehme ich einen Geruch. Ich kenne ihn. Was ist das? Es riecht nach Scheiße. „Igitt“, sage ich und gehe weiter. Neben dem Weg zwei Menschen, einer in der Stehhocke, der andere hinter ihm. Er wischt ihm den Hintern aus, glaube ich. Ich schaue nicht hin, sondern nach vorne, gehe vorbei. Ein paar Meter weiter steht eine Frau neben dem Weg, sie hält drei Wanderstecken mit beiden Händen fest. Von allen Stecken stehen schwarze, geöffnete Klettverschlusslaschen ab. „Hallo“, sage ich. „Hallo“, sagt sie und zieht dabei die Mundwinkel nach oben. „Der Stecken liegt da hinten“, sage ich. „Nein, nein“, sagt sie, „den haben die beiden.“ „Ja“, sage ich, „ich habe sie gesehen, aber der Stecken ist weiter hinten.“ „Aha“, sagt sie, „sowas aber.“ Ich nicke. „Die sind aufs Klo gegangen“, sagt sie. „Ja, ich habe es wahrgenommen“, sage ich, „da hinten, ich habe ihn auf einen Ast gehängt, gleich dort, wo die Wiese beginnt.“ „Ok, danke“, sagt sie und geht in die Richtung, in die ich gezeigt habe.

Aus der Miniaturensammlung Die bewegte Au, die im Rahmen eines Stipendiums für Literatur im Nationalpark Donau-Auen entstanden ist. Die Texte sind als Postkartensammlung erschienen und im Juli im Schl8hof-Foyer ausgestellt. Dort gibt es für dich die Möglichkeit, selbst Postkarten zu gestalten.

 

von Tamara Imlinger |