„Improvisation improvisiert man nicht“* und Nickelsdorf 2023

Im Mai waren wir in Leipzig, w8-Betriebsausflug. Dort gibt es tatsächlich noch einen zweitausendeins-Laden. Unter anderem habe ich von Anne Fadiman „Alles, was das Leben ausmacht“ erstanden. Leichtfüßig schreibt sie über dies und das und nennt die Form „plauderndes Feuilleton“. In dem Essay über Kaffee erfährt man z. B., dass Balzac bis zu 40 Tassen Kaffee am Tag trank, zuletzt aß er gemahlenen Kaffee, um eine noch stärkere Wirkung zu erzielen. Er selbst meint dazu „eine abscheuliche, eigentlich recht brutale Methode, die ich nur Männern mit übermäßiger Kraft empfehlen kann, Männern mit dichtem schwarzen Haar und einer Haut voller Leberflecken, Männern mit großen, breiten Händen und Beinen wie Kegeln.“

Wir tranken auch viel Kaffee in Nickelsdorf neben dem Fußballfeld, das während des Festivals zum Campingplatz mutierte. Kaffeebohnen vom Zechmeister, die wir stilgerecht in der mitgebrachten Mühle rieben und in der Bialetti aufbrühten. Erstmals sind wir alle mit dem Zug und Fahrrad angereist, das wurde aber auch Zeit! Es war nicht so affenheiß wie im letzten Jahr, dennoch war der Eiskaffee unter dem kühlenden Nussbaum eine Wohltat nach dem Zeltaufbau. Ungefragt meinte der Chef: „die Anwort auf die Frage lautet Ja!“. Welch eine Freude, er hat die Frage von unseren Augen abgelesen. Ja, wir dürfen wieder seinen Salzwasserswimmingpool benützen, einfach bei seiner Hintertür hinein. Glamourcamping!!! Und einer hatte sogar ein Spektiv mit, um frühmorgens die Vögel – z. B. die wunderschönen Eisvögel – irgendwo in der Pampas beobachten zu können.

Zum 43. Mal wurden die Konfrontationen ausgetragen, organisationsseitig zeigten sich deutliche Ermüdungserscheinungen, die sich aber nicht auf das durchwegs sehr gute Programm auswirkten. Tollen Konzerten konnten wir folgen. Gewidmet war das Festival dem im Frühjahr verstorbenen Peter Brötzmann, am Programmflyer ist Tristan Honsinger zu sehen. Tristan verstarb wenige Tage nach dem Festival. Schon gut, diesen überzeugten Performer noch einmal gesehen zu haben.

Vor wirklich vielen Jahren beim Ulrichsberger Kaleidophon hat es sich ergeben, dass wir in der kleinen Bar „es fliegt, es fliegt“ mit ein paar Dorfkids gespielt haben, sehr, sehr lustig. Ein offenes Herz für Blödeleien, nicht Karriere war ihm wichtig, sondern Action, Lebendigkeit und Konfrontation. Tristan begann mit 9 Jahren Cello zu spielen und wurde klassisch ausgebildet. Mit 20 sollte er zum Kriegsdienst eingezogen werden, Tristan entzog sich dem drohnenden Vietnamdrama durch Flucht und konnte nicht mehr in die Staaten zurückkehren.

Heuer im Frühjahr wurde ihm neben Tobias Delius und Christian Lillinger der „Instant Award in Improvised Music“ verliehen. Ein anonymer Mäzen hat diesen Preis für herausragende improvisierte Musik gestiftet. Eine Freundin hat davor zu einem Crowdfunding aufgerufen, da Tristan schwer erkrankt und mittellos Unterstützung brauchte. Er lebte zuletzt in Triest.

Und die anderen Konzerte: hohe Qualität, alle Konzerte besonders. Ganz hervorragend Léandre/Rasmussen/Fernandez/Kaučič. Der Dialog der beiden Frauen – die große Joëlle Léandre mit Mette Rasmussen, die zum ersten Mal in Nickelsdorf auftritt – unbeschreiblich schön! Léandre und Honsinger – beide wagen alles mit ihrer Musik, sie setzen sich dem Publikum aus, sie lassen sich nicht in ein Genre fassen.

„Freiheit existiert nicht, allein schon das Wort free music, für mich ist das inkohärent. Aber Improvisation ist eine Kunst, die existiert, die Kunst zu improvisieren! Das ist viel Arbeit, täglich. Bach hat improvisiert, und viele andere in den vergangenen Jahrhunderten … und wir sind in Europa, Amerika ist ein junges Land und wir sind alt, wie Bush gesagt hat, thank you, das alte Europa, es ist nicht schlecht, wir haben eine große Kultur hier. Und Musiker haben immer improvisiert, damals, ich weiß nicht, im 14., 15. Jahrhundert, immer. Musiker haben improvisiert. Die Musiker, die nicht improvisieren konnten, wurden nicht anerkannt. Es ist eine Freude, sein Instrument zu nehmen und zu spielen, in den Tag hineinzuspielen, zu erfinden, zu kreieren, irgendwas zu spielen, sich auszudrücken. Wut oder Freude, Völle oder Leere, verliebt oder nicht … Du fühlst etwas und du nimmst dein Instrument und du spielst einen Ton, eine Phrase, und du lächelst, weil es dir gefällt!“**

Werden die Konfrontationen ein 44igstes Mal stattfinden? Insider gehen davon aus, das es nicht mehr weitergehen wird. „Kann sein, dass es das war, vielleicht in einem Jahr … .“***

*          Zitat: Joëlle Léandre

**        Joëlle Léandre interviewt von Philipp Schmickl 2008, veröffentlicht in „tell no lies, claim no easy victories“.

***      Ein Liedtext, ich weiß grad nicht, von wem.

von manie |